Da stand ich nun, im Wechsel der Gefühle, und wußte nicht, ob ich das - für studentische Verhältnisse - immens viele Geld nun lockermachen oder mir die Gelegenheit, einmal ein Land auf einem anderen Weg kennenzulernen, entgehen lassen sollte. Schließlich hatte ich mich überwunden, mein Konto zu plündern und flog mit Matti Goldschmidt und vierzig anderen Tanzwütigen über Ostern (1994) nach Israel.
Die Reiseteilnehmer unterschieden sich in vielerlei Hinsicht: Nicht nur in Herkunftsort und Beruf, sondern vor allem im Alter (Jahrgang `35 bis `77). Und das war für mich im ersten Moment schon ein kleiner Schock, denn vom ostdeutschen Volkstanz her war ich fast ausschließlich junge Leute gewöhnt. Doch das alles störte nicht das fantastische Verhältnis, das sich nach und nach entwickelte, uns verband ja der Spaß am Tanzen.
In der ersten der beiden Wochen wohnten wir in einem Kibbuzgästehaus, ca. 20 km südlich von Haifa, direkt am Mittelmeer. Jeden Tag war Tanz angesagt, und es gab kaum jemanden, der sich dieser Sucht entziehen konnte. Obwohl im Können und Kennen der Tänze teilweise große Unterschiede bestanden, arrangierten sich alle doch ganz gut miteinander, und wer absolut nicht klar kam, hängte sich einfach an jemanden, der die Schritte schon gescheckt hatte. Aber es gab auch noch genügend andere Dinge, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte, denn mit zweimal zwei Stunden tanzen ist ein Tag ja noch nicht ausgefüllt. So war zum Beispiel der Sandstrand im wahrsten Sinne des Wortes zum Greifen nah (den Schritt bis ins Wasser wagten allerdings nicht alle Sonnenanbeter; es war ihnen wohl zu kalt), und auch der Kibbuz und dessen nähere Umgebung mit Überresten einer über 3.000 Jahre alten Hafenanlage luden zu Spaziergängen ein.
Zur Auflockerung des Programmes organisierte Matti an verschiedenen Tagen einen Bus, mit dem wir recht bequem in andere Orte bzw. wieder zurück in den Kibbuz kutschiert wurden. Für die meisten von uns bot sich auf diesem Weg zum ersten Mal die Gelegenheit, kleine Erkundungen zu machen und mit dem Land und den Leuten ein klein wenig vertrauter zu werden.
Die Halbzeit der Reise war ziemlich schnell heran, aber es kam kaum Wehmut auf, denn ab jetzt hieß es, alle Sinne aufsperren, um so viel wie möglich vom Land mitzubekommen. Schon am ersten Tag liefen wir so viele Stationen an, daß ich im Nachhinein alles nur noch mit Hilfe meines Tagebuches rekapitulieren kann.
Auf dem Weg in den Süden Israels bekamen wir unheimlich viel geboten. So gibt es sicherlich auf der ganzen Welt kein Land, in dem auf so kleiner Fläche so viele archäologische Funde gemacht wurden und werden und einige davon, wie Qumran oder Avdath, konnten wir besichtigen.
Aber es ist bei weitem nicht so, daß man der Geschichte nur in Städten oder Siedlungen längst vergangener Tage begegnet, und in einem Land wie Israel schon gar nicht. In Jerusalem wurde das besonders deutlich: Da war die Altstadt, in der so ziemlich jeder Stein buchfüllende Geschichten und Anekdoten erzählen könnte - wenn er halt könnte; da war aber auch Jad wa-Schem, wo u.a. das Holocaust-Museum und die Allee der Gerechten zu finden sind. Es war für mich nicht ganz leicht, die Eindrücke, die mich in Jad wa-Schem überwältigten, für die am gleichen Tag stattfindende Besichtigung der Altstadt ad acta zu legen, ohne sie überhaupt richtig verarbeitet zu haben. Und so war es eigentlich während der gesamten Zeit, in der wir von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten brausten. Da half nur noch schauen, staunen, fotografieren und irgendwie so viel wie möglich festhalten, damit die Erlebnisse nicht so schnell verloren gehen. Erlebnisse, wie die Fahrt durch die Besetzten Gebiete (Westbank), in denen es mir schon etwas komisch zumute war. Nicht aus Angst, daß etwas passieren könnte, sondern viel eher wegen der Gewißheit, jetzt genau da zu sein, worüber man sonst immer nur hört oder liest, und daß diese vermeintlich so fernen Orte doch ziemlich nah sind, uns doch etwas angehen.
Wir sahen Landschaften, die sich auf irgend eine Art ähnelten oder an andere Flecken dieser Erde erinnerten, aber doch wieder ganz anders waren als alles bisher Gesehene: die Wüste Negev, die bei einigen von uns die althergebrachte über endlose sandige Ebenen ins Wanken geraten lies, das Tote Meer, das seinem Namen alle Ehre macht, die Wadis, die es schwer machen zu glauben, daß nur ein paar Meter weiter nichts Grünes mehr zu finden ist oder das Rote Meer, das so warm und dessen Unterwasserwelt so befremdlich ist - alles nur einige Beispiele der Vielfalt, die dieses Land bietet. Und ich bin sicher, daß das, was wir gesehen haben - und das war wahrlich nicht wenig - nur ein Bruchteil dessen ist, was es in Israel zu erleben gibt.
Wie das so auf einer Reise ist, man hat für gewöhnlich nicht nur Interesse an Natur und Geschichte des Landes, sondern auch daran, wie die Menschen leben, was sie für Ansichten haben und ob sie sich auch für mich, den Gast aus Deutschland, interessieren. Leider mußte ich die Erfahrung machen, daß einige der einheimischen Herren ausländische Frauen ohne männliche Begleitung als eine Art Freiwild betrachten und nicht unbedingt den Gedankenaustausch suchen, aber wir hatten auch andere Begegnungen, zum Beispiel mit Meir Mager, einem gebürtigem Berliner (leider 1996 verstorben, M.G.), der uns über das Leben im Kibbuz erzählte oder einem jungen Mann, der auf einer Tanzveranstaltung in Jerusalem unter der Leitung von Avner Naim das Gespräch mit uns suchte, weil er einfach gerne mal wieder deutsch sprechen wollte.
Wir erlebten auch Sitten und Gebräuche live: Etwa, als am Freitagabend religiöse Juden den Beginn des Schabbath feierten, als Matti am Tempelberg in Jerusalem einen Rock überziehen mußte, weil er mit den für ihn typischen kurzen Hosen recht unsittlich gekleidet war oder als am Jom ha-Zikaron, dem Gedenktag für die gefallenen Soldaten, um 20:00 h zwei Minuten lang eine Sirene ertönte, die bewirkte, daß alles und jeder stehen blieb. Die Autos hielten an und die Insassen stiegen aus, Passanten blieben schlagartig stehen und die Gäste im Lokal erhoben sich von ihren Plätzen. Das ist doch aktives Gedenken und erschien mir ehrlicher als ein Staatsakt mit Pomp und Gloria.
Einen kleinen Eindruck vom Alltag bekamen wir zum Beispiel bei unseren Zu-Fuß-Touren in den Wadis, wo wir ab und zu Kindergruppen trafen, die in Begleitung von Erwachsenen wanderten. Soweit ganz normal für unsere Augen, aber daß die sie begleitenden Männer bewaffnet waren, und das nicht nur mit Taschenmessern, gab mir doch zu denken.
Die allgegenwärtige Angst vor Anschlägen oder Auseinandersetzungen zeigte sich schon in München bei der peinlich genauen Sicherheitskontrolle am Flughafen, am Tempelberg, wo wir sowohl beim Betreten als auch beim Verlassen eine Taschenkontrolle über uns ergehen lassen mußten; oder auch darin, daß man Soldaten niemals ohne Waffen sieht, auch dann nicht, wenn sie im Ausgang sind.
Romantik kombiniert mit Wildnis und Verklärung bot sich uns bei einem 2-stündigen Kamelritt in der Wüste mit anschließendem Essen und Übernachtung im Beduinen-'Zelt' (eigentlich kein richtiges Zelt, wenngleich die Inneneinrichtung Zeltatmosphäre ausströmt). Es war ein ganz tolles Erlebnis, aber leider ist es mit der Volkskunst (im westlichen Sinne) in Israel genauso wie in Deutschland: Wenn man etwas davon erleben möchte, muß man sich eine Art Show ansehen, denn an das Ursprüngliche kommt man nur schwer heran, wenn überhaupt.
Aber es begegnete uns doch auch Folk ohne Show. Als Alternative zur Disco gibt es nämlich in den Städten ziemlich viele Veranstaltungen mit der Möglichkeit volkszutanzen, vorausgesetzt, man kennt die Tänze. In 'unserem' Kibbuz (und in vielen anderen sicherlich auch) wurde regelmäßig am Freitagabend getanzt. Da Matti ja auf diesem Gebiet ein absoluter Insider ist, hatten wir auch Gelegenheit mitzuhoppeln, denn darauf lief es letztendlich hauptsächlich hinaus. Doch es war gar nicht so schlimm, daß ich nur einzelne Tänze kannte, denn so konnte ich in aller Ruhe die Leute beobachten, die sich da nach der Musik bewegten. Es schien fast, als wären wir in einer riesigen Ballettaufführung. Die Tänzer setzten nämlich nicht nur die Füße in der Art, wie es der Choreograph vorgesehen hatte, sondern tanzten mit ihrem ganzen Körper. Jeder für sich, und doch alle gemeinsam. Daß man mit der Zeit die Schritte lernt, glaube ich gern, aber ob ich jemals in der Lage wäre, meine angeborene deutsche Steifheit abzulegen und mich einfach von der Musik führen zu lassen?
Ich habe noch nie zuvor in so kurzer Zeit so viel Verschiedenes erlebt, und obwohl der Schwerpunkt der Reise auf dem Tanzen lag und Matti extra betont hatte, daß sich jeder selbst über das Land und dessen Sehenswürdigkeiten belesen sollte, haben wie Unmengen an Eindrücken gesammelt und dazu noch eine nicht alltägliche, sehr einfühlsame Reiseleitung bekommen.
Auch wenn ich als Student anfangs vor dem Preis zurückgeschreckt bin, es war in jedem Fall eine lohnende Investition, und wenn ich bis zur 3. Tanzreise wieder entsprechend flüssig sein sollte (kennt jemand einen Sponsor für mich?), fahre ich wieder mit.
(Anmerkung von Matti G.: Ulrike Z. hat auch an der 3. Tanzreise teilgenommen)
|